Mitgliederschwund: Die Krise der Kampflustigen

Fernöstliche Kampfsportarten erleben derzeit einen Mitgliederschwund: Nach mehreren Jahrzehnten einer boomenden Szene geht die Zahl jener, die Judo, Karate, Jiu-Jitsu oder Taekwondo betreiben, seit vergangenem Jahr wieder zurück.

In der Krise, heißt es, müssten alle kämpfen. Kämpfen um den Arbeitsplatz, kämpfen gegen den Abstieg, kämpfen gegen die Rezession. Kein Wunder also, dass den Österreichern in der Freizeit die Lust am Kämpfen vergangen ist: Seit 2008 geht die Anzahl der Mitglieder von hiesigen Kampfsportvereinen zurück – noch nicht drastisch, aber doch merklich.

Zahlen der Statistik Austria zufolge ist der österreichische Jiu-Jitsu-Verband im Vorjahr von knapp über 5000 auf 4400 Mitglieder geschrumpft, der Judoverband von 16.300 auf 15.700 Mitglieder – ein ähnliches Bild bietet sich bei anderen fernöstlichen Kampfsportarten. Macht die Krise dem Boom, den die österreichische Kampfsportszene in den vergangenen Jahren erlebt hat, den Garaus?

Seit Anfang der 1980er-Jahre hat das Interesse an fernöstlichen Kampfsportarten in Österreich beständig zugenommen. In den größten und am stärksten organisierten der Sportarten – Judo, Karate, Jiu-Jitsu und Taekwondo – hat sich die Zahl der Vereinsmitglieder seit 1986 fast vervierfacht, in Wien finden sich fast in jeder Straße Vereinslokale und Trainingsstudios. Neben körperlichem Training waren viele Österreicher – der Großteil davon aus überdurchschnittlich gut gebildeten und vermögenden Schichten – vom pazifistischen Charakter der fernöstlichen Kampfsportarten fasziniert, die sich selbst als äußerstes Mittel zur Deeskalation verstehen. 2007 praktizierten – nicht zuletzt dank popkultureller Vorbilder von „Matrix“ bis „Batman“ – knapp unter 40.000 Menschen in Österreich die vier genannten Sportarten, organisiert in 569 Vereinen.

Arbeitslose ohne Kampfgeist

Eine goldene Zeit für den Kampfsport in Österreich – die jetzt vorbei ist. „Das hängt damit zusammen, dass die Menschen in Krisenzeiten generell weniger Sport betreiben“, sagt der Sportsoziologe Otmar Weiß vom sportwissenschaftlichen Zentrum der Universität Wien. In wirtschaftlich schwierigen Zeiten würden sich die Leute mehr in ihren Beruf hineinsteigern und dadurch weniger Ressourcen für Freizeit übrighaben.

„Eigentlich könnte man glauben, dass durch die Krise mehr Menschen arbeitslos werden und dadurch mehr Zeit für Sport, Kino oder andere Freizeitaktivitäten hätten – das Gegenteil ist der Fall“, so Weiß. Denn, obwohl Arbeitslose mehr Zeit hätten, betreiben sie im Durchschnitt wesentlich weniger Sport als Berufstätige – übrigens mit ein Grund dafür, dass sich Arbeitslosigkeit häufig negativ auf die Gesundheit der Betroffenen auswirkt.

Eine nicht unwesentliche Rolle beim Rückgang der Zahl der Kampfsportler in Österreich kommt auch dem Kostenfaktor zu: Rechnet man die traditionelle Bekleidung, die in den meisten Kampfsportarten Pflicht ist, dazu, schlägt sich die Vereinsmitgliedschaft samt Hallenbenützungsgebühren jährlich mit mehreren hundert Euro zu Buche – „und in unsicheren Zeiten ist ein solches Hobby schnell ein Punkt, den die Menschen einsparen“, sagt Sportsoziologe Weiß.

Trend: Selbstverteidigung statt Philosophie

Aber nicht nur die Zahl der Menschen, die zu kämpfen lernen wollen, hat sich verändert – auch die Motivation, Kampfsport zu betreiben, ist heute eine andere. „Noch vor zehn Jahren sind die Leute mehrheitlich zu uns gekommen, weil sie sich mit der Tradition des Sports auseinandersetzen wollten, mit der Kultur, aus der er stammt, und der Philosophie, die dahintersteht“, sagt Michael Takàcs, Präsident des österreichischen Jiu-Jitsu-Verbandes.

Heute hingegen seien die Menschen, die einem Kampfsportverein beitreten, auf der Suche nach einer effektiven Selbstverteidigungstechnik. „Wir beobachten, dass die Leute heute ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis an den Tag legen“, sagt Takàcs, seines Zeichens auch Sprecher der Wiener Polizei. Daher seien auch jene Sportarten am wenigsten von dem Mitgliederschwund betroffen, die schnell erlernbare Techniken vermitteln, um Angreifer abzuwehren.

Quelle: Die Presse (02.10.2009)